Liebe Freunde!
Der westliche Besucher des Jahres 2002
erlebt Rumänien als ein Land voller Widersprüche, voller Gegensätze,
unbegreiflich, verwirrend die real existierenden, jedermann ins Auge
springenden, extremen Entwicklungsstandards. Quasi zeitgleich laufen
Szenarien ab, die eigentlich durch Jahrzehnte Entwicklungszeitraum
voneinander getrennt ablaufen müssten, zumindest in der
Vorstellungskraft jener "unerfahrenen" Besucher aus dem Westen, die
sich 12 Jahre danach erstmals aufmachen, den unbekannten Teil
Europas zu erkunden.
Da finden Begegnungen statt mit Pferdewagenlenkern, in der linken
Hand die Zügel, sicher und erfahren das Pferd durch die Straßen
dirigierend, in der rechten Hand das Handy am Ohr, plaudernd und
schwatzend, manchmal auch wild gestikulierend.
Satellitenschüsseln in geradezu unvorstellbarer Anzahl und Vielfalt
zieren vom Einsturz bedrohte Wohnblocks in den Vorstädten.
Gut gekleidete, anscheinend wohlhabende junge Menschen gehen in den
Städten ihrer Beschäftigung nach oder sitzen am Nachmittag in den
Straßencafes, während in den gleichen Boulevards und Stadtbezirken
vom Elend gezeichnete, in Lumpen gekleidete Menschen gebückt und
lethargisch, deprimiert und den Blick nach unten gewendet, dahin
vegetieren.
Teure Luxusmobile parken neben Schrottkisten vornehmlich der Marke
"Dacia", die sich beim nächsten Windstoß in alle Einzelteile
auflösen sollten, aller Erwartungen zum Trotz jedoch im nächsten
Augenblick voll beladen mit fünf Personen und reichlich Gepäck sich
vom total erstaunten hinter her starrenden "Unerfahrenen" weiß aus
dem Auspuffrohr qualmend verabschieden und diesem in einer
Nebelschwade einen Hustenanfall bereiten.
Lebende und auch tote Hunde, verwesend am Straßenrand, daneben
Kioske, die Coca Cola und Bier, Sandwichs und Souvenirs anbieten aus
dem Land der Kontraste.
In den Dörfern kein fließendes Wasser, keine Kanalisation, dafür
aber mancherorts Internetzugang und modernste
Funktelekommunikationstechnik in Form dieser kleinen Apparate, die
der Besitzer meist stolz am
Ohr, zumindest aber am Hosengurt auch auf dem Weg zum "Plumsklo"
immer mit Würde und Bedacht bei sich trägt, könnte ihn doch am
stillen Örtchen ein dringender Anruf erreichen, der ihm Wichtiges
mitzuteilen hat.
Überwältigt von diesen Eindrücken, damit
überfordert, diese extremen Kontraste einzuordnen, aufs Erste einmal
total verwirrt, fährt der "Unerfahrene" wieder nach Hause in sein
Land der Kontinuität, in dem doch alles logisch und erklärbar
scheint, und kann lange Zeit nicht schlafen
Hier das Land der kontinuierlichen
Entwicklung des Lebensstandards und des technischen Fortschritts
über Jahrzehnte, drüben das Land, in dem Jahrzehnte parallel
ablaufen, Entwicklungssprünge statt finden, die für den
"Unerfahrenen" schier unfassbar sind.
Das hoch moderne Zeitalter der Technik verpflanzt in ein Umfeld aus
der Vorkriegszeit.
Dies ist Rumänien im Jahr 2002.
Wir von Pro Romania haben diese
Entwicklung ab dem Jahr 1990, oder besser gesagt ab dem Jahr 0 der
demokratischen Tradition im Land der Widersprüche begleitet.
Zu Beginn gab es diese Gegensätze nicht.
Keine Luxuskarossen, keine Satellitenanlagen, kein Internet und auch
keine Handys, keine modern gekleideten jungen Menschen auf den
Straßen, keine Straßencafes, keine fröhlichen und lachenden
Gesichter, keine gestikulierenden und diskutierenden Menschen, die
leidenschaftlich ihre Standpunkte vertreten und sich die Köpfe heiß
reden, wie in der Zukunft alles besser werden soll
Wir, die damals "Unerfahrenen", erlebten
eine Situation, die unsere Vorstellungskraft nicht zu fassen
vermochte: Trostlosigkeit, Öde und Leere. Hoffnungslosigkeit in den
Augen der geschundenen Menschen, bedrohliche Atmosphäre auf Schritt
und Tritt, Misstrauen und Scheu, Unsicherheit, Angst. Mancher von
uns wurde krank angesichts dieser unvorstellbaren
Hinterlassenschaften der Diktatur, angesichts der Entwürdigung der
Menschen, angesichts des Lebensstandards wie vor 100 Jahren und
angesichts der enormen Unterschiede in den Denkweisen und
Vorstellungen der Menschen.
Wir fuhren nach Hause und konnten lange Zeit nicht schlafen.
Der Fortschritt ist da in Rumänien, er
ist unübersehbar und er ist nicht aufzuhalten und soll auch nicht
aufgehalten werden. Fortschritt bedeutet Wohlstand. Stillstand
bedeutet Rückschritt.
Die Frage stellt sich nur, ob die Menschen mitkommen mit den
Siebenmeilenschritten des technischen Fortschritts, während
grundlegende wichtige Veränderungen hinsichtlich der
wirtschaftlichen Strukturen und hinsichtlich der Verbesserung der
Lebensverhältnisse nur im Schneckentempo voran gehen. Verstehen, ja
verkraften sie diese Kluft, die sich neuerlich und erstmalig auf tut
seit dem Jahre 0?
Früher gab's das nicht, jeder hatte ein bisschen, gerade genug zum
Leben, man kannte ja nichts anderes. Kommunismus eben, fast zu wenig
zum Leben, zu viel zum Sterben, aber eben bei allen in etwa gleich.
Heute: Neureiche mit Handy und Luxuskarosse, Luxusvillen in den
Stadteingängen, Menschen, die keinen Kukuruz hacken und doch
wohlhabender sind als diejenigen, die das tun, wie sie es gewohnt
sind schon seit Generationen.
"Wie ist das möglich", fragen sich diese
Menschen, diese, die auf der Strecke bleiben und sich die Zeit
zurück wünschen, in der Ceaucescu noch nicht verrückt geworden war,
wie sie sagen.
Viele gibt es, die so denken, zu viele, die die Entwicklung in den
letzten 10 Jahren nicht verstehen, die Erwartungen hatten, die
bitter enttäuscht wurden, die sich den Fortschritt anders
vorgestellt haben. Mehr Wohlstand im persönlichen kleinen Bereich,
statt Straßencafes und Internet, bessere Preise für Kukuruz und
Getreide, damit sich das Hacken lohnt, statt Handy und Satellit.
Es braucht nicht viel, diese Menschen zufrieden zu stellen,
vielleicht nur den Silberstreifen am Horizont. Anzeichen, damit sie
Hoffnung schöpfen können, positive Tendenzen, die die Menschen nicht
verzweifeln lassen, und vor allen Dingen das Gefühl, dass sie nicht
auf sich allein gestellt sind.
Hier sind die Reichen gefragt. Strukturhilfen gilt es zu entwickeln,
die das Land voran bringen. Hilfen, die den Menschen ihre Würde
lassen, und sie nicht zur Abhängigkeit verurteilen, sondern sie
motivieren, Engagement zu ergreifen.
Aber irgend wann müssen diese Strukturhilfen auch bei den Menschen
ankommen, müssen durch schlagen bis in den persönlichen Bereich und
die Ergebnisse müssen messbar werden.
Nur dann werden die "Kukuruzhacker" und
"Selbstversorger", die "am Rande der Verzweiflung Stehenden" und die
"Hoffnungsträger", die "Wartenden" und die "Zupackenden", die
"Elenden" und die "Verantwortungsbewussten" und vor allen Dingen die
"politisch Engagierten" in der Phase des Wandels einen Sinn
erkennen, für den zu kämpfen es sich lohnt.
Dann werden Demagogen und Volksaufhetzer, Prediger einer neuerlichen
Diktatur und eines faschistisch gefärbten Großrumänien,
Verherrlicher von mittelalterlichen Gesellschaftssystemen, die im
Jahr 2002 die totale Abwendung von der internationalen
Staatengemeinschaft und die vollkommene Autarkie eines
großrumänischen Paradieses auf Erden fordern, in dem Regimegegner
und Kriminelle in Fußballstadien öffentlich hingerichtet werden
sollen, keine Chance haben.
Es ist noch nicht so weit!
Nur durch eine dritte Kandidatur zum
Staatspräsidenten eines so genannten "Wendehalses", eines
"Postkommunisten" konnte der Rückfall ins Mittelalter im Dezember
2000 abgewendet werden. Eine dritte Alternative stand nicht zur
Verfügung; das bürgerliche Lager hat sich aus der Politik
verabschiedet. Diejenigen, die im Jahr 1996 für viele Menschen so
etwas wie eine "zweite Befreiung" Rumäniens bedeuteten, haben
resigniert das Handtuch geworfen. Ihr Repräsentant verzichtete auf
eine erneute Kandidatur für eine zweite Amtszeit mit dem viel
sagenden Versprechen "nie wieder" in die Politik zurück zu kehren.
"Der Käs ist noch nicht gegessen", so
sagen wir Saarländer. Rumänien erlebt eine Gratwanderung, es bewegt
sich am Rande des Abgrundes. Der Entwicklungsprozess ist noch lange
nicht abgeschlossen; 20 Jahre prognostizierten Politiker, die
Verantwortung nach der Revolution im Jahr 1989 übernommen hatten.
Halbzeit also?
Besinnen wir von Pro Romania uns auf
unsere Aufgaben und Zielsetzungen.
Wir haben in der Ortschaft Alios viel erreicht, sehr viel. Ich wage
zu behaupten, dass extreme Standpunkte dort keine großen Chancen
haben. Es herrscht Aufbruchstimmung, Optimismus. Rezepte
funktionieren. Die Leute erkennen, dass sich Engagement lohnt.
Lachen, oder zumindest ein hoffnungsvolles Lächeln erkennt der
aufmerksame Beobachter in den Gesichtern der Alioser; vor 10 Jahren
erkannte er dies nicht.
Hoffen wir, dass noch mehr Menschen die
Rezepte zubereiten und dass sie ihnen schmecken. Denn viel mehr als
Rezepte können wir nicht geben.
Ein wichtiges für die Zukunft lautet:
"Bildung"!
Denn Bildung schafft Freiheit!
Gehen wir unseren Weg weiter und bleiben wir bei der Stange!
Darum werbe ich.
Euer Werner
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