Pro Romania e.V.
Rundbrief im April 2002

10 Jahre - Halbzeit?!

Autor: Werner Becker

Liebe Freunde!

Der westliche Besucher des Jahres 2002 erlebt Rumänien als ein Land voller Widersprüche, voller Gegensätze, unbegreiflich, verwirrend die real existierenden, jedermann ins Auge springenden, extremen Entwicklungsstandards. Quasi zeitgleich laufen Szenarien ab, die eigentlich durch Jahrzehnte Entwicklungszeitraum voneinander getrennt ablaufen müssten, zumindest in der Vorstellungskraft jener "unerfahrenen" Besucher aus dem Westen, die sich 12 Jahre danach erstmals aufmachen, den unbekannten Teil Europas zu erkunden.
Da finden Begegnungen statt mit Pferdewagenlenkern, in der linken Hand die Zügel, sicher und erfahren das Pferd durch die Straßen dirigierend, in der rechten Hand das Handy am Ohr, plaudernd und schwatzend, manchmal auch wild gestikulierend.
Satellitenschüsseln in geradezu unvorstellbarer Anzahl und Vielfalt zieren vom Einsturz bedrohte Wohnblocks in den Vorstädten.
Gut gekleidete, anscheinend wohlhabende junge Menschen gehen in den Städten ihrer Beschäftigung nach oder sitzen am Nachmittag in den Straßencafes, während in den gleichen Boulevards und Stadtbezirken vom Elend gezeichnete, in Lumpen gekleidete Menschen gebückt und lethargisch, deprimiert und den Blick nach unten gewendet, dahin vegetieren.
Teure Luxusmobile parken neben Schrottkisten vornehmlich der Marke "Dacia", die sich beim nächsten Windstoß in alle Einzelteile auflösen sollten, aller Erwartungen zum Trotz jedoch im nächsten Augenblick voll beladen mit fünf Personen und reichlich Gepäck sich vom total erstaunten hinter her starrenden "Unerfahrenen" weiß aus dem Auspuffrohr qualmend verabschieden und diesem in einer Nebelschwade einen Hustenanfall bereiten.
Lebende und auch tote Hunde, verwesend am Straßenrand, daneben Kioske, die Coca Cola und Bier, Sandwichs und Souvenirs anbieten aus dem Land der Kontraste.
In den Dörfern kein fließendes Wasser, keine Kanalisation, dafür aber mancherorts Internetzugang und modernste Funktelekommunikationstechnik in Form dieser kleinen Apparate, die der Besitzer meist stolz am
Ohr, zumindest aber am Hosengurt auch auf dem Weg zum "Plumsklo" immer mit Würde und Bedacht bei sich trägt, könnte ihn doch am stillen Örtchen ein dringender Anruf erreichen, der ihm Wichtiges mitzuteilen hat.

Überwältigt von diesen Eindrücken, damit überfordert, diese extremen Kontraste einzuordnen, aufs Erste einmal total verwirrt, fährt der "Unerfahrene" wieder nach Hause in sein Land der Kontinuität, in dem doch alles logisch und erklärbar scheint, und kann lange Zeit nicht schlafen

Hier das Land der kontinuierlichen Entwicklung des Lebensstandards und des technischen Fortschritts über Jahrzehnte, drüben das Land, in dem Jahrzehnte parallel ablaufen, Entwicklungssprünge statt finden, die für den "Unerfahrenen" schier unfassbar sind.
Das hoch moderne Zeitalter der Technik verpflanzt in ein Umfeld aus der Vorkriegszeit.

Dies ist Rumänien im Jahr 2002.

Wir von Pro Romania haben diese Entwicklung ab dem Jahr 1990, oder besser gesagt ab dem Jahr 0 der demokratischen Tradition im Land der Widersprüche begleitet.
Zu Beginn gab es diese Gegensätze nicht.
Keine Luxuskarossen, keine Satellitenanlagen, kein Internet und auch keine Handys, keine modern gekleideten jungen Menschen auf den Straßen, keine Straßencafes, keine fröhlichen und lachenden Gesichter, keine gestikulierenden und diskutierenden Menschen, die leidenschaftlich ihre Standpunkte vertreten und sich die Köpfe heiß reden, wie in der Zukunft alles besser werden soll

Wir, die damals "Unerfahrenen", erlebten eine Situation, die unsere Vorstellungskraft nicht zu fassen vermochte: Trostlosigkeit, Öde und Leere. Hoffnungslosigkeit in den Augen der geschundenen Menschen, bedrohliche Atmosphäre auf Schritt und Tritt, Misstrauen und Scheu, Unsicherheit, Angst. Mancher von uns wurde krank angesichts dieser unvorstellbaren Hinterlassenschaften der Diktatur, angesichts der Entwürdigung der Menschen, angesichts des Lebensstandards wie vor 100 Jahren und angesichts der enormen Unterschiede in den Denkweisen und Vorstellungen der Menschen.
Wir fuhren nach Hause und konnten lange Zeit nicht schlafen.

Der Fortschritt ist da in Rumänien, er ist unübersehbar und er ist nicht aufzuhalten und soll auch nicht aufgehalten werden. Fortschritt bedeutet Wohlstand. Stillstand bedeutet Rückschritt.
Die Frage stellt sich nur, ob die Menschen mitkommen mit den Siebenmeilenschritten des technischen Fortschritts, während grundlegende wichtige Veränderungen hinsichtlich der wirtschaftlichen Strukturen und hinsichtlich der Verbesserung der Lebensverhältnisse nur im Schneckentempo voran gehen. Verstehen, ja verkraften sie diese Kluft, die sich neuerlich und erstmalig auf tut seit dem Jahre 0?
Früher gab's das nicht, jeder hatte ein bisschen, gerade genug zum Leben, man kannte ja nichts anderes. Kommunismus eben, fast zu wenig zum Leben, zu viel zum Sterben, aber eben bei allen in etwa gleich.
Heute: Neureiche mit Handy und Luxuskarosse, Luxusvillen in den Stadteingängen, Menschen, die keinen Kukuruz hacken und doch wohlhabender sind als diejenigen, die das tun, wie sie es gewohnt sind schon seit Generationen.

"Wie ist das möglich", fragen sich diese Menschen, diese, die auf der Strecke bleiben und sich die Zeit zurück wünschen, in der Ceaucescu noch nicht verrückt geworden war, wie sie sagen.
Viele gibt es, die so denken, zu viele, die die Entwicklung in den letzten 10 Jahren nicht verstehen, die Erwartungen hatten, die bitter enttäuscht wurden, die sich den Fortschritt anders vorgestellt haben. Mehr Wohlstand im persönlichen kleinen Bereich, statt Straßencafes und Internet, bessere Preise für Kukuruz und Getreide, damit sich das Hacken lohnt, statt Handy und Satellit.
Es braucht nicht viel, diese Menschen zufrieden zu stellen, vielleicht nur den Silberstreifen am Horizont. Anzeichen, damit sie Hoffnung schöpfen können, positive Tendenzen, die die Menschen nicht verzweifeln lassen, und vor allen Dingen das Gefühl, dass sie nicht auf sich allein gestellt sind.
Hier sind die Reichen gefragt. Strukturhilfen gilt es zu entwickeln, die das Land voran bringen. Hilfen, die den Menschen ihre Würde lassen, und sie nicht zur Abhängigkeit verurteilen, sondern sie motivieren, Engagement zu ergreifen.
Aber irgend wann müssen diese Strukturhilfen auch bei den Menschen ankommen, müssen durch schlagen bis in den persönlichen Bereich und die Ergebnisse müssen messbar werden.

Nur dann werden die "Kukuruzhacker" und "Selbstversorger", die "am Rande der Verzweiflung Stehenden" und die "Hoffnungsträger", die "Wartenden" und die "Zupackenden", die "Elenden" und die "Verantwortungsbewussten" und vor allen Dingen die "politisch Engagierten" in der Phase des Wandels einen Sinn erkennen, für den zu kämpfen es sich lohnt.
Dann werden Demagogen und Volksaufhetzer, Prediger einer neuerlichen Diktatur und eines faschistisch gefärbten Großrumänien, Verherrlicher von mittelalterlichen Gesellschaftssystemen, die im Jahr 2002 die totale Abwendung von der internationalen Staatengemeinschaft und die vollkommene Autarkie eines großrumänischen Paradieses auf Erden fordern, in dem Regimegegner und Kriminelle in Fußballstadien öffentlich hingerichtet werden sollen, keine Chance haben.

Es ist noch nicht so weit!

Nur durch eine dritte Kandidatur zum Staatspräsidenten eines so genannten "Wendehalses", eines "Postkommunisten" konnte der Rückfall ins Mittelalter im Dezember 2000 abgewendet werden. Eine dritte Alternative stand nicht zur Verfügung; das bürgerliche Lager hat sich aus der Politik verabschiedet. Diejenigen, die im Jahr 1996 für viele Menschen so etwas wie eine "zweite Befreiung" Rumäniens bedeuteten, haben resigniert das Handtuch geworfen. Ihr Repräsentant verzichtete auf eine erneute Kandidatur für eine zweite Amtszeit mit dem viel sagenden Versprechen "nie wieder" in die Politik zurück zu kehren.

"Der Käs ist noch nicht gegessen", so sagen wir Saarländer. Rumänien erlebt eine Gratwanderung, es bewegt sich am Rande des Abgrundes. Der Entwicklungsprozess ist noch lange nicht abgeschlossen; 20 Jahre prognostizierten Politiker, die Verantwortung nach der Revolution im Jahr 1989 übernommen hatten.

Halbzeit also?

Besinnen wir von Pro Romania uns auf unsere Aufgaben und Zielsetzungen.
Wir haben in der Ortschaft Alios viel erreicht, sehr viel. Ich wage zu behaupten, dass extreme Standpunkte dort keine großen Chancen haben. Es herrscht Aufbruchstimmung, Optimismus. Rezepte funktionieren. Die Leute erkennen, dass sich Engagement lohnt. Lachen, oder zumindest ein hoffnungsvolles Lächeln erkennt der aufmerksame Beobachter in den Gesichtern der Alioser; vor 10 Jahren erkannte er dies nicht.

Hoffen wir, dass noch mehr Menschen die Rezepte zubereiten und dass sie ihnen schmecken. Denn viel mehr als Rezepte können wir nicht geben.

Ein wichtiges für die Zukunft lautet: "Bildung"!
Denn Bildung schafft Freiheit!

Gehen wir unseren Weg weiter und bleiben wir bei der Stange! Darum werbe ich.

Euer Werner


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